gotische Skulptur der Kathedralen

gotische Skulptur der Kathedralen
gotische Skulptur der Kathedralen
 
Eine der merkwürdigsten Erfindungen der europäischen Kunst des Mittelalters ist die Säulenfigur. Die frühesten erhaltenen, zwischen 1145 und 1155 entstandenen Werke dieses Typus finden sich an den drei Westportalen der Kathedrale von Chartres. Auf den ersten Blick wirken sie mit ihrer zylindrischen Grundform und ihrer extremen Überlängung starr und in hohem Maße abstrakt. Diese Bildwerke sollen sich vollkommen dem architektonischen System der Portale unterordnen: Deren schräg gestellten Gewände verlaufen in rechtwinklig eingestuften Abschnitten, und in diesen Stufen stehen Säulen, deren Schäfte zusammen mit denen der davor angebrachten Figuren jeweils aus einem Stück gehauen sind.
 
Nach der bewegten Ekstase, die einige Hauptwerke der romanischen Monumentalskulptur kennzeichnet (Moissac, Autun), waren die »Bildregisseure« der frühen Gotik bestrebt, die zur Wahl stehenden Themen der christlichen Heilsbotschaft an den Portalen gut »lesbar«, klar und übersichtlich zu gestalten. Doch gerade die scheinbar so starren Säulenfiguren sind bei näherem Zusehen mit Leben erfüllt: Der Körper hebt sich deutlich unter den dünnen Gewändern mit einzelnen Gliedern ab, und die Gesichter lassen sogar verschiedene Charaktere erkennen. Dieser unerhörte Ausgleich zwischen abstrahierender Gebundenheit der Gesamtform und lebendiger Vermenschlichung der Bildaussage macht die eigentliche Größe der Chartreser Figuren aus. Ein solches Spannungsverhältnis ließ sich nicht lange durchhalten; fast alle der zahlreichen Nachfolgewerke der Chartreser Westportale fallen in eine abstrakte Stereotypie zurück und vereinseitigen die Ausdrucksgeladenheit der Köpfe zu einem einheitlichen Typus. Auf einem dermaßen hohen künstlerischen Niveau war keine Neuerfindung mehr möglich.
 
Es bedurfte eines andersartigen Impulses, um die Innovationskraft der Bildhauer wieder anzufeuern. Ein solcher kam erstmals an dem um 1170 entstandenen Westportal der Kathedrale von Senlis zum Tragen. Die ruhige Geschlossenheit der Chartreser Figuren weicht hier einer heftigen Bewegtheit, angeregt durch die bis ins frühe 12. Jahrhundert zurückreichende Tradition der Kleinplastik, Goldschmiedekunst und Buchmalerei in den Gebieten zwischen Rhein und Maas. Die große Tat der Bildhauer von Senlis bestand darin, die Bewegungsmomente agierender Figuren zum ersten Mal in einen monumentalen Maßstab übertragen zu haben.
 
Die in Senlis verwirklichte Befreiung der Figur aus ihrer festen Geschlossenheit rief bald nach einer differenzierteren Darstellung der Körperformen selber. Um dies zu erreichen, besann man sich auf die Kunst der Antike. Vorausgegangen war auch in dieser Hinsicht wieder ein Künstler aus dem Maasgebiet, der Goldschmied Nikolaus von Verdun. Er legte in seinen etwa zwischen 1180 und dem frühen 13. Jahrhundert entstandenen Werken ein an der Antike geschultes Körperverständnis an den Tag, das im ganzen Mittelalter seinesgleichen sucht. Bereits um 1200 hielt diese »antikisierende« Richtung an den Portalen der Kathedralen von Laon und Sens ihren Einzug in die gotische Steinplastik. Das eng aneinander liegende, muldenförmig gebildete Faltenwerk der Gewänder, das einen fast durchscheinend dünnen Stoff suggeriert, wurde von diesem Zeitpunkt an während mehrerer Jahrzehnte für die Gestaltung des Menschenbildes bestimmend - auch in der Buch-, Wand- und Glasmalerei. Die feinlinigen Figuren an den sechs Querhausportalen der Kathedrale von Chartres verdeutlichen, dass die Bildhauer während der ersten Phase der Hochgotik nicht in der Lage oder nicht willens waren, der Größe und Einfachheit der Architektur etwas Entsprechendes entgegenzuhalten.
 
Dies gelang erst kurz vor 1230 vor allem in Amiens. Vielen dortigen Figuren ist aber noch eine schablonenhafte Starrheit eigen, ihre Physiognomie beschränkt sich auf ein paar stereotype Formeln. Um die Gläubigen direkter anzusprechen, schufen die Künstler spätestens seit etwa 1240 Figuren von ausdrucksstarker Mimik und temperamentvollem Gebärdenspiel. Jetzt führten die heiligen Gestalten einzelne Szenen eines grandiosen geistlichen Schauspiels vor, setzten häufig ein gewinnendes Lächeln auf oder wendeten sich auch dann einander zu, wenn dies die Ikonographie nicht erforderte. Kein Wunder, dass sie in ihrer äußeren Erscheinung modisch aktualisiert wurden: das kokette Gebaren der Frauen, die ephebenhafte Anmut der Jünglinge, das gezierte Auftreten der Männer spiegeln Eigenschaften und Verhaltensweisen wieder, die in den höheren Gesellschaftsschichten, zu denen sich die häufig hochadeligen Domherren zählten, als vorbildlich galten. Diese von Paris ausgehende »höfische« Richtung der Hochgotik blieb im Kern trotz aller Variationen, die vor allem in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts auf einen Verlust des Körperverständnisses zugunsten reiner Schönlinigkeit hinausliefen, sehr lange die ganz Frankreich - ja sogar ganz Europa - bestimmende stilistische Sprache.
 
Auch in Deutschland wurde seit dem frühen 13. Jahrhundert die französische Skulptur als Vorbild anerkannt. Aber wie in der Architektur erfolgte die Übernahme westlicher Formen sprunghaft und ohne innere Logik. Eine sehr direkte Adaption französischer Vorbilder zeigt etwa die jüngere Bildhauerwerkstatt, die in den 1220er-Jahren am Dom zu Bamberg tätig war. Die motivischen und stilistischen Anlehnungen an Werke der Kathedrale von Reims sind in Bamberg so eng, dass man entweder eine direkte Schulung der Bildhauer in Reims oder die Verwendung aus Reims stammender plastischer Modelle voraussetzen muss. Unter anderem folgt der Kopf des berühmten »Bamberger Reiters« Zug um Zug demjenigen eines Königs, der am Querhaus der Reimser Kathedrale einen alttestamentlichen Herrscher darstellt. Doch dessen pathetischer Blick aus tief liegenden Augen verwandelt sich am Bamberger Kopf in ein Selbstbewusstsein von jugendlicher Kühnheit - von einer »Kopie« kann also keine Rede sein. Vor allem aber war der Bamberger Bildhauer fähig, den auf dem Pferd sitzenden Reiter als weitgehend vom Reliefgrund gelöste vollplastische Figur in einem bestimmten Bewegungsmoment zu erfassen, eine Aufgabe, die zu dieser Zeit keinem französischen Bildhauer gestellt wurde.
 
Die berühmten Standbilder im Westchor des Naumburger Doms hingegen stellen meist historisch fassbare Personen dar, nämlich die Stifter, die im 11. Jahrhundert den ersten Naumburger Dom und eine dazugehörige Kollegiatskirche errichtet hatten. Beim Neubau des Doms im 13. Jahrhundert wurde der Westchor als Nachfolger der frühromanischen Kollegiatskirche in das Baukonzept integriert und im Sinne einer Memorialkirche eingerichtet. Die »Fassade«, welche diese Memorialkirche im Inneren des Doms abschließt, ist der berühmte Westlettner. Seine Reliefs mit Darstellungen der Passion und die im Portal stehende Kreuzigung Christi sollen eindrücklich daran erinnern, dass Leidensweg und Opfertod des Erlösers die Voraussetzung für eine wirkungsvolle Totenfürbitte ist. Die in Naumburg tätigen Bildhauer verinnerlichten die neuen Ausdrucksmittel, die kurz vor 1240 erstmals Pariser Bildhauer in die Skulptur eingebracht hatten, gut zehn Jahre später in einer Weise, die nicht mehr zu überbieten war.
 
Ganz anders führten um 1300 die Bildhauer der Chorpfeilerfiguren im Kölner Dom die Lektion weiter, die sie ebenfalls in Paris gelernt hatten. Die elegante Schwingung der Körper, die kunstvoll arrangierte Drapierung der Gewänder, die attraktiv geschlängelten Linien der Säume: All dies folgt genau dem »höfischen« Habitus von Vorbildern, die in Paris und seinem kulturellen Einzugsgebiet geschaffen worden waren. Nirgendwo gibt es aber in Frankreich Figuren, in denen diese Preziosität wie an den Kölner Figuren bis zu einer schon fast gekünstelten Perfektion gesteigert wurde. Es wäre aber falsch, die vielfältige deutsche Skulptur des 14. Jahrhunderts immer nur unter dem Blickwinkel ihres Verhältnisses zu Frankreich zu betrachten. Zweifellos folgt auch die Madonna am Mittelpfeiler des kurz nach 1356 entstandenen Südportals am Augsburger Dom französischen Mustern, aber die massive Schwere der Gestalt von Mutter und Kind, die voluminöse Erscheinung der beiden Köpfe bezeugt ein besonderes Verständnis für die Darstellung der körperlichen Präsenz. Verständlicherweise glaubte man hier die ersten Ansätze der ebenso monumentalen wie realitätsbezogenen Bildhauerkunst entdecken zu können, die am Ende des 14. Jahrhunderts im Werk des Claus Sluter gipfelt.
 
Die statuarische Festigkeit und die Betonung des Körperlichen fanden ihre Entsprechung in einer neuartigen Darstellung des Tiefenraums. Ihren Höhepunkt bietet das Bogenfeld des »Singertors« an der Südseite des Wiener Stephansdoms, das die Bekehrung und das Martyrium des heiligen Paulus schildert und dessen nahezu vollplastische Figuren völlig frei im Vordergrund eines bühnenartigen Kastenraums agieren. Diesem stark ausgeprägten Illusionismus entspricht eine Fülle realitätsbezogener Details: Die Architektur der Burgen, die Kostüme, Rüstungen und Waffen sind so wiedergegeben, wie sie die Zeitgenossen tatsächlich überall sehen konnten. So erweist sich das Tympanon des Singertores als wichtige Etappe auf dem Weg zur Eroberung der Wirklichkeit, zu der sich die Kunst der Spätgotik anschickte.
 
Prof. Dr. Peter Kurmann
 
 
Das Jahrhundert der großen Kathedralen, 1140—1260, bearbeitet von Willibald Sauerländer. München 1990.
 
Triumph der Gotik, 1260—1380, bearbeitet von Alain Erlande-Brandenburg. Aus dem Französischen. München 1988.

Universal-Lexikon. 2012.

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